Der Begriff der
Mehrheit
Was versteht man
unter Mehrheit?
Gliederung
0. Der schillernde
Begriff der Mehrheit
1. Die einfache Mehrheit (Ja-Nein-Entscheidungen)
1.1 Definition
1.2 Anwendungen: Die einfache Mehrheit ist erforderlich bei
1.3 Beispiele
2. Die relative Mehrheit
2.1 Definition
2.2 Anwendungen: Die relative Mehrheit ist erforderlich bei
2.3 Rechtsgrundlagen
2.4 Beispiel bei einem Wahlausgang
3. Die absolute Mehrheit
3.1 Definition
3.2 Beispiele: A Der Bundestag
3.2.1 Anwendungen: Die absolute Mehrheit im Bundestag ist erforderlich bei
3.2.2 Rechtsgrundlagen
3.3 Beispiele: A Der Bundesrat
3.3.1 Die Anzahl der Stimmen
3.3.2 Beschlussfassung
3.3.3 Interpretationen und Anmerkungen
3.4 Zwei Varianten der absoluten Mehrheit
3.5 Beispiel bei einem Wahlausgang
3.6 Wie wird dieses Problem in anderen Länder gelöst?
4. Die verfassungsändernde Mehrheit
4.1 Definition
4.2 Beispiele zu den drei Fällen
4.3 Anwendungen: Die Zweidrittel-Mehrheit ist jeweils erforderlich bei
4.4 Die jeweiligen Rechtsgrundlagen
4.5 Weitere Probleme
5. Minderheitenrechte
6. Die Mehrheit beim
Internationalem Währungsfond (IWF)
7. Volksbegehren und
Volksentscheid oder
8. Das Vetorecht im
Sicherheitsrat der UNO
9. Entscheidungsfindungen in
Europäischen Institutionen
9.1. Europäisches Parlament
9.1.1 Die Zahl der Abgeordneten:
9.1.2 Die Amtszeit:
9.1.3 Die Parteien:
9.1.4 Die Aufgaben:
9.1.5 Der wichtigste Streitpunkt:
9.1.6 Die Anzahl der Abgeordneten:
9.2
Der Ministerrat
9.2.1 Die Aufgaben:
9.2.2 Besonders wichtig:
9.2.3 Stimmen der einzelnen Länder: (So war es bisher)
9.3
Der Europäische Ministerrat
0.
Der schillernde Begriff der Mehrheit
Jedem sind wohl mehre Begriffe im Zusammenhang mit dem wichtigen und
zentralen Begriff der Mehrheit geläufig. Jedem fallen sofort mehrer Begriffe
ein. Man kann unterscheiden:
o
die einfache Mehrheit
o
die relative Mehrheit
o
die absolute Mehrheit
o
die Zweidrittel-Mehrheit
Der Begriff Mehrheit ist in jeder Demokratie besonders
wichtig.
o
Alle wichtigen personellen Entscheidungen (durch Wahlen) werden durch
Mehrheitsentscheidungen entschieden.
o
Aber auch viele Sachentscheidungen werden durch Mehrheitsbeschluss (und
nicht durch Diktat) entschieden.
Das gilt im Prinzip und grundsätzlich in jeder Demokratie, unabhängig davon, wie sie ausgestaltet ist:
In der repräsentativen Demokratie werden Delegierte, Abgeordnete und Wahlmänner - je nach der Festlegung in der Verfassung durch Mehrheitsbeschluss gewählt.
Auch die eben genannten Personen entscheiden wieder durch Mehrheitsbeschluss zur Benennung von Personen, die mit noch mehr Macht ausgestattet sind.
In einer basisorientierten Demokratie werden alle (wahlberechtigten) Menschen zu Sachthemen aber auch zu personenbezogenen Problemen oder Fragestellungen um ihre Entscheidungen gebeten. Hier können alle Wahlberechtigten einer Gemeinde, einer Stadt oder sogar eines Landes, ja sogar alle Bewohner eines Staates mit Mehrheit entscheiden.
Die angestrebten Ziele ist in allen Fällen gleich:
- Die Entscheidungen sollen von einer
breiten Mehrheit getragen werden, damit ein
Konsens besteht.
- Die Entscheidung wird durch dieses Verfahren auch legitimiert.
Sie sehen, es erscheint notwendig und hilfreich, sich mit dem so wichtigen Begriff Mehrheit einmal etwas näher zu befassen.
Es gibt die unterschiedlichsten Facetten des Begriffes Mehrheit!
Hier eine Auflistung der Mehrheitsbegriffe ohne Anspruch auf Vollzähligkeit:
relative Mehrheit,
absolute
Mehrheit,
Mehrheit
der abgegebenen Stimmen,
Mehrheit
der Mitglieder (Art. 121; GG)
„Die
Mehrheit der Mitglieder des Bundestages und der Bundesver-
sammlung
im Sinne dieses Grundgesetzes ist die Mehrheit der
gesetzlichen
Mitgliederzahl.“
relative
Mehrheit der abgegebenen Stimmen
absolute
Mehrheit der abgegebenen Stimmen
Mehrheit
der Wahlberechtigten,
relative
Mehrheit der Wahlberechtigten,
absolute
Mehrheit der Wahlberechtigten,
verfassungsändernde
Mehrheit.
qualifizierte
Mehrheit
Wir wollen nun die einzelnen Begriffe im Einzelnen
erläutern.
Hinweis: Mit einem Kunstgriff,
nur die Begriffe auszuwählen, die eine Schlüsselfunk-
tion
haben (mit der man die anderen verbleibenden Begriffe erhellen kann),
erspart
man sich die Erläuterung aller Begriffe.
1. Die einfache Mehrheit
(Ja-Nein-Entscheidung)
1.1 Definition:
Darunter
versteht man die Mehrheit der abgebebenen Stimmen.
Sie
ist erreicht, wenn die Zahl der „Ja“ –Stimmen höher ist als die der
„Nein“-Stim-
men.
Stimmenenthaltungen werden dabei nicht berücksichtigt.
1.2 Anwendungen: Die einfache Mehrheit ist erforderlich:
Alle
Beschlüsse des Bundestages, soweit nichts anderes bestimmt ist.
1.3 Rechtsgrundlage: Art. 42 Abs. 2 GG und § 48GO BT
(Erklärung
der Abkürzungen:
GO ist die Abkürzung für Geschäftsordnung.
BT
ist die Abkürzung für Bundestag.)
2. Die relative Mehrheit:
2.1 Definition:
Das
ist die Mehrheit der für verschiedene Vorschläge oder Kandidaten abgegebenen
Stimmen.
2.2 Anwendungen: Die relative Mehrheit ist erforderlich bei
(1)
Für die Wahl des Bundeskanzlers für den Fall, dass die absolute Mehrheit nicht
erreicht wurde. (Art. 63 Abs. 4 GG)
(2)
Für die Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter für den Fall,
dass die absolute Mehrheit nichterreicht
wurde. (§ 2 GO BT)
(3)
Für das Verfahren bei der Auswahl der des Sitzes einer Bundesbehörde, falls
sich
im ersten Wahlgang keine absolute
Mehrheit ergeben hat (§ 50 GO BT)
2.3 Rechtsgrundlagen:
(1) Art. 63 Abs. 4 GG
(2) § 2 GO BT
(3)
§ 50 GO BT
2.4 Beispiel bei einem Wahlausgang
Nehmen wir einfach einmal an, dass sich für irgend ein öffentliches Amt
vier Kandidaten
bewerben. Nennen wir diese Kandidaten einfach Kandidat A, Kandidat B, Kandidat
C und
Kandidat D. Machen wir uns das Problem weiterhin einfach und wählen glatte und
einfache
Zahlen und legen fest, dass die Stimmenanzahl in alphabetischer Reihenfolge
erfolgte:
Das Wahlergebnis sähe z.B. so aus:
Kandidat A erhält 36 %
der abgegebenen Stimmen,
Kandidat
B erhält 30 % der abgegebenen Stimmen,
Kandidat
C erhält 25 % der abgegebenen Stimmen und der
Kandidat
D erhält 9 % der abgegebenen Stimmen.
Natürlich steht der Gewinner der Wahl eindeutig fest!
Es ist Kandidat A - er hat die meisten Stimmen auf sich vereinigt.
Er muss aber, wenn er die Wahl annimmt, von vorn herein
gegen 64 % der (engagierteren)
Bürger, die ihre Stimme abgegeben haben, regieren!!!
An dieser Stelle muss ein wichtiger Hinweis erfolgen:
Natürlich sind niemals alle Sach- oder Personalfragen
immer nur mit ja oder nein zu ent-
scheiden.
Außer Personen, die dies oder jenes befürworten und Gegnern gibt es immer
Personen, die
die beabsichtigte oder tatsächliche Entscheidung tolerieren.
Das Ergebnis klingt paradox:
Er regiert also gegen die Mehrheit, obwohl er die
Mehrheit erhalten hat.
Das Ergebnis klingt auch nicht viel besser, wenn man die richtigen Bezüge
in den Satz ein-
baut.
Er regiert also gegen die Mehrheit (der Bürger/Wähler), obwohl er die
(relative)
Mehrheit (der abgegeben Stimmen) erhalten hat.
Sie sehen bereits an diesem einfachen und kleinem
Beispiel, was die sogenannte Mehrheit
für ein schillernder Begriff ist!
Es wird noch problematischer, wenn wir mal zusätzlich
annehmen, dass sich nicht alle
Wahlberechtigten an der Wahl beteiligt haben.
Wenn sich nur 75 % der Wahlberechtigten an der Abstimmung
beteiligt haben und keine
ungültige Stimme zu verzeichnen ist, bleibt es selbstverständlich bei dem
Wahlsieg des
Kandidaten A!
Er regiert aber - wieder voraussetzt, dass er die Wahl
wieder annimmt - nicht nur gegen
64 % der abgegebenen Stimmen, sondern gegen 73 % der stimmberechtigten Bürger!
anders ausgedrückt: Seine Mehrheit bedeutet, dass nur 27 %
der stimmberechtigten Bürger
hinter ihm stehen!
(Die Rechnungen: 36 % mal 0,75 = 27 % und 100 % minus 27
% =
73 %)
Zur Erinnerung: Ein Ziel von Wahlen war (fast immer) eine
breite Konsensbildung!
Natürlich gilt auch hier der obige Hinweis über die Tolerierung von Entscheidungen .
3. Die absolute Mehrheit
3.1 Definition:
Das
ist die Mehrheit der gesetzlich festgelegten Mitgliederzahl des Bundestages
oder
des
Bundesrates.
Sie
wird wie folgt berechnet: Man nimmt die gesetzliche Mitgliederzahl des
Bundestages
oder des Bundesrates und teilt diese Zahl durch 2 und zählt 1 dazu.
3.2 Beispiele: A Der Bundestag:
1.
Gesetzliche Mitgliederzahl der 10. Wahlperiode (ohne die nicht voll
stimmberech-
tigten Berliner Abgeordneten) betrug 498
Die Rechnung: 498 : 2 = 249
249
+ 1 = 250
Die
absolute Mehrheit betrug in diesem Fall 250.
2.
Gesetzliche Mitgliederzahl der 12. Wahlperiode 662
Die Rechnung: 662 : 2 = 331
331
+ 1 = 332
Die
absolute Mehrheit betrug in diesem Fall 332.
3.2.1 Anwendungen: Die absolute Mehrheit im Bundestag ist erforderlich
bei
(1)
Wahl des Bundeskanzlers,
(2)
Misstrauensvotum,
(3)
Vertrauensantrag des Bundeskanzlers oder Wahl eines neuen Bundeskanzlers,
(4)
Schaffung bundseigner Mittel- und Unterbehörden,
(5)
Gesetz zum Verfahren einer Änderung des Gebietsstandes der Länder,
(6)
Aufhebung von bestimmten Maßnahmen im Spannungsfall
(7)
Zurückweisung eines mit der Mehrheit des Bundesrates beschlossenen Einspruchs
gegen ein Gesetz,
(8)
Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter in den ersten beiden
Wahlgängen
(9)
Wahl des Wehrbeauftragten
3.2.2 Rechtsgrundlagen:
(1)
Art. 63 Abs. 2 und 3 GG
(2)
Art. 67 Abs. 1GG
(3)
Art. 68 Abs. 1 GG
(4)
Art. 87 Abs. 3 GG
(5) Art. 29 Abs. 7 GG
(6) Art. 80 Abs. 3 GG
(7) Art. 77 Abs. 4 GG
(8) GO BT
(9) §13 WehrbG
3.3 Beispiele: B Der Bundesrat:
3.3.1 Die Anzahl der Stimmen
Jedes
Bundesland besitzt je nach Größe der Einwohnerzahl eine im Grundgesetz
festgelegte
Anzahl von Stimmen.
Darüber
gibt das Grundgesetz in Artikel 51 Auskunft. Darin heißt es:
„Jedes Bundesland hat mindestens drei Stimmen, Länder mit
mehr als
2 Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit
mehr als sechs Millionen
Einwohnern fünf, Länder mit mehr als sieben
Millionen Einwohnern sechs
Stimmen.“
(Quelle: Art. 51 [Zusammensetzung -
Stimmengewicht] Abs. 2;GG)
Die 16 Bundesländer:
Niedersachsen SPD 6 Stimmen
Nordrhein-Westfahlen SPD/Grüne 6 Stimmen
Bayern CSU 6 Stimmen
Baden-Württemberg CDU 6 Stimmen
Hessen CDU/FDP 5 Stimmen
Sachsen-Anhalt SPD 4 Stimmen
Sachsen CDU 4 Stimmen
Schleswig-Holstein SPD/Grüne 4 Stimmen
Thüringen CDU 4 Stimmen
Rheinland
Pfalz SPD/FDP 4 Stimmen
Brandenburg SDP/CDU 4 Stimmen
Berlin SPD/PDS 4 Stimmen
Mecklenburg-Vorpommern SPD/PDS 3
Stimmen
Saarland CDU 3 Stimmen
Bremen SPD/CDU 3 Stimmen
Hamburg CDU/FDP/PRO 3 Stimmen
_________________________________________________________________
Der
Bundesrat hat also zur Zeit insgesamt 69
Stimmen.
Zur
Zustimmung eines Landes benötigt man 35
Stimmen.
„Die Stimmen eines Landes können nur einheitlich und nur
durch anwesende
Mitglieder oder deren Vertreter abgegeben
werden.“
(Quelle: Art. 51 [Zusammensetzung -
Stimmengewicht] Abs. 3, Satz 2)
3.3.2 Beschlussfassung
Eine
Zustimmung des Bundesrates zu einem Gesetz das der Bundestag bereits
beschlossen
hat, erfolgt durch die Mehrheit seiner Stimmen.
Im
Grundgesetz heißt es dazu:
„Der Bundesrat fasst seine Beschlüsse mit mindestens der
Mehrheit
seiner Stimmen.“
(Quelle: Art. 52 [Präsident – Beschlüsse
-Geschäftsordnung] Abs. 3, Satz 1)
3.3.3 Interpretationen und Anmerkungen
a)
Das bedeutet: Eine Zustimmung des Bundesrates zu einem Gesetz bedarf einer
absoluten
Mehrheit für „Ja“.
Enthaltungen
zählen faktisch wie Nein-Stimmen.
b)
Nach dem Grundgesetz sprechen die Länder als ganzes nicht deren Regierungs-
koalitionen.
Der Bundesrat ist als Gegengewicht zum Bundestag mit seinen
parteipolitischen
Mehrheiten konzipiert.
c)
Zustimmungspflichtig sind Gesetze immer dann, wenn Belange der Länder
berührt
sind.
Heute
müssen 60 % aller Gesetze durch den Bundesrat. 1948 waren es nur 10 %
aller
Gesetze.
Das
Bundesverfassungsgericht hatte 1958 entschieden, dass eine einzige Norm, die
die
Länder betrifft, das ganze Gesetz zustimmungspflichtig macht.
Das
gilt auch für Änderung solcher Gesetze, die die Länder nicht betreffen.
Auch
durch Änderung des Grundgesetzes sind die Bereiche der zustimmungs-
pflichtigen
Gesetze ausgeweitet worden.
3.4 Zwei Varianten der absoluten Mehrheit
Auch bei der absolute Mehrheit kann man zwei Variantenunterscheiden:
1. die absolute Mehrheit der
abgegebenen Stimmen und
2.
die absolute Mehrheit der Stimmberechtigten.
3.5 Beispiel bei einem Wahlausgang
Die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen ist fast so
problematisch wie die relative
Mehrheit.
Der Kandidat A müsste im obigen Beispiel mehr als 50 % der
abgegebenen Stimmen erhal-
ten, um gewählt zu werden. Seine Position wäre dann besser als bei der Wahl
nach der
relativen Mehrheit.
Bei genauerem Hinsehen kann es aber auch hier wieder auf
die Wahlbeteiligung an-
kommen:
Nehmen nur 50 % an der
Wahl teil - oder besser weil genauer - sind nur 50 %
der
möglichen Stimmen gültig, so hat er, wenn er (sagen wir einfach mal
60
% der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinigen konnte), nur
30
% der Bürger hinter sich und muss gegen 70 % regieren.
Natürlich gilt auch hier der obige Hinweis über die Tolerierung von
Entscheidungen.
Viel besser sieht es bei der absoluten Mehrheit der
Stimmberechtigten/ Wahlberechtigten
aus:
Wäre unser Kandidat A mit
der Mehrheit aller Stimmberechtigten (Wahlbe-
rechtigten)
gewählt, so hätte er von vorn herein eine wirkliche Mehrheit hinter
sich.
Selbstverständlich kann er sich im Laufe seines Regierens auch unbeliebt machen
und die
Zustimmung der (seiner) Mehrheit verlieren, aber weil auch der umgekehrte Fall
denkbar
ist, wollen wir diesen Gedanken nicht weiter verfolgen.
Das bedeutet (jedoch nichts anderes als die Tatsache),
dass bei einer Wahlbeteiligung
von unter 50 % kein Kandidat die
absolute Mehrheit der Wahlberechtigten erlan-
gen kann!
Wer sollte aber dann regieren?
3.6 Wie wird dieses Problem in anderen Länder gelöst?
Einige Länder haben diese Problematik mit dem Begriff
Mehrheit erkannt und entsprechende
Konsequenzen gezogen:
In Frankreich z.B. gibt es, wenn keiner der Kandidaten die
absolute Mehrheit der abgegebe-nen Stimmen (?) erhalten hat, nach kurzer Zeit
eine zweite Wahl (= Stichwahl), bei der nur die beiden erstplazierten
Kandidaten antreten dürfen.
So glaubt man eine breite Mehrheit und ein hohes Maß an Konsens zu erreichen.
In der Türkei z.B. geht man einen anderen Weg. Man
verordnet dort Wahlpflicht. Jeder
Wahlberechtigte muss zur Wahl gehen und seine Stimme (evtl. eine ungültige
Stimme) abgeben.
Sehr wichtige Entscheidungen und Änderungen, die die
Struktur unserer Gesellschaft betreffen, werden mit einer 2/3-Mehrheit
getroffen. Man spricht dann z.B. von der verfassungsändernden
Mehrheit.
Nun zu dieser Art von Mehrheit.
4. Die
verfassungsändernde Mehrheit (Die Zweidrittel-Mehrheit)
4.1 Definition
Das
ist die Mehrheit von zwei Dritteln. Man unterscheidet hier drei Fälle:
Fall
a) Das ist die Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des
Bundestages
(d.h. der gesetzlichen Mitgliederzahl).
oder
Fall
b) Das ist die Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen.
oder
Fall
c) Das ist die Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder
des
Bundestages
4.2 Beispiele zu den drei Fällen
1. Gesetzliche
Mitgliederzahl der 10. Wahlperiode (ohne die nicht voll stimmberech-
tigten Berliner Abgeordneten betrug 498
Die Rechnung: 498 : 3 = 166
166
x 2 = 332
Die
absolute Mehrheit betrug in diesem Fall 332.
2.
Gesetzliche Mitgliederzahl der 12. Wahlperiode 662
Die Rechnung: 662 : 3 = 221
221
x 2 = 442
Die absolute Mehrheit betrug
in diesem Fall 442.
4.3 Anwendungen: Die Zweidrittel-Mehrheit ist jeweils
erforderlich bei
Die absolute Mehrheit ist erforderlich: [Im Falle von a)]
(1) Für jede Änderungen des Grundgesetzes,
(2) Anklage gegen den Bundespräsidenten vor
dem Bundesverfassungsgericht,
(3) Ausschluss eines Abgeordneten von den
Arbeiten des Bundestages bis zur
Rechtskraft einer Entscheidung im
Wahlprüfverfahren.
Die absolute Mehrheit ist erforderlich: [Im Falle von b)]
(4) Ausschluss der Öffentlichkeit von den
Sitzungen des Bundestages,
(5) Zurückweisung eines Einspruches des
Bundesrates, den dieser mit Zweidrittel-
mehrheit beschlossen hat,>
(6) Feststellen des Verteidigungsfalles,
(7) Anwenden von Rechtsvorschriften im
Spannungsfall.
Die absolute Mehrheit ist erforderlich: [Im Falle von c)]
(8) Abweichen von der Geschäftsordnung im
Einzelfall
(9) Abweichen von der Frist für den Beginn der
Beratung nach Verteilung der
Drucksachen
(10)
Eintritt in die Beratung ohne vorherige Ausschussüberweisung,
4.4 Die jeweiligen Rechtsgrundlagen:
(1) Art. 79 Abs. 2 GG
(2) Art. 61 Abs.1 GG
(3) §16 Wahlprüfungsgesetz
(4) Art. 42 Abs. 1 GG
(5) Art. 77 Abs. 4 GG
(6) Art. 115 a Abs. 1 GG
(7) Art. 80 Abs. 1 GG
(8) GO BT
(9) GO BT
(10)
BO BT
Wenn man das Grundgesetz ändern will, so benötigt man dazu keine
Zufallsmehrheit, sondern
eine qualifizierte Mehrheit. Mindestens 2/3 der Abgeordneten des Deutschen
Bundestages
müssen eine beantragte Verfassungsänderung (nach in drei Lesungen und
anschließender
Debatte) für diese Änderung sein, damit sie geltendes Recht werden kann.
4.5 Weitere Probleme
Das allgemeine Problem ist ein Doppeltes. Hier als zwei Fragen formuliert:
a) Welche Mehrheit wird
als ausreichend erachtet, das Grundgesetz zu ändern?
(Warum keine 3/4-Mehrheit oder
9/10-Mehrheit, oder gar eine Einstimmig-
keit?)
b) Wer hat oder wodurch
ist das Legitimationsverfahren selbst (sprich: die
Quote der festgelegten Mehrheit)
legitimiert?
(Aber das ist wohl schon eher eine Frage
der Staatsphilosophie und nicht
nur eine Frage der Mehrheit!)
Bei der Änderung des Grundgesetzes sollte aber darauf
hingewiesen werden:
Das
Problem der Differenz zwischen abgegebenen Stimmen und möglichen Stimmen
stellt
sich hier meist nicht, weil alle Fraktionen auf strikte Anwesenheit drängen.
So
wurden sogar schon kranke Abgeordnete mit der Trage in den Plenarsaal getragen,
damit
sie mit abstimmen konnten.
5. Minderheitenrechte
Außerdem gibt es noch Mehrheiten im Zusammenhang mit Minderheitsrechten.
Die Mehrheit von einem Drittel der Mitglieder des Bundestages ist erforderlich
für
o
eine vorzeitige Einberufung des Bundestages,
(Art. 39 Abs. 3 GG und § 21 GO BT)
o
die Beantragung eines Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungs-
gericht,
(Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG)
Die Mehrheit von einem Viertel der Mitglieder
des Bundestages ist erforderlich für
o
die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
(Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG)
o
den Antrag auf Erhebung einer Anklage des Bundespräsidenten wegen vor-
sätzlicher Verletzung des Grundgesetzes
oder eines anderen Gesetzes vor dem
Bundesverfassungsgericht
(Art. 61 Abs. 1 Satz 2 GG)
6. Die Mehrheit beim
Internationalem Währungsfond (IWF)
Der Internationale Währungsfond hat vier allgemeine und
grundlegende Aufgaben.
Er soll:
- die internationale Zusammenarbeit
auf dem Gebiet der Währungspolitik fördern,
-
ein ausgeglichenes Wachstum des Welthandels erleichtern,
-
die Stabilität der Währungen sichern und
-
Ländern mit kurzfristigen Zahlungsbilanzschwierigkeiten Kredite gewähren.
Bei allen wichtigen Entscheidungen, die der IWF zu treffen
hat, reicht nicht eine ein-fache Mehrheit, auch keine absolute Mehrheit, auch
keine 2/3-Mehrheit, sondern es muss eine Mehrheit von 85 % der Gesamtstimmen
zustande kommen.
(So steht es in den Statuten.)
Was auf den ersten Blick fast optimal - weil im hohen Maße
mehrheitsförderlich also demo-kratisch - aussieht, erweist sich bei genauerer
Betrachtung als sehr problematisch!
Schauen wir uns nun die
Stimmenverteilung im IWF an!
So sieht die Stimmenverteilung beim IWF sieht aus:
Vereinigte Staaten von Amerika 19,8 % 17,35 %
Großbritannien
6,7 %
Deutschland
5,8 %
Frankreich
4,8 %
Japan
4,6 %
übrige
Industrieländer 16,4
%
3
Sozialistische Länder 1,9 %
China
2,6 %
124
Entwicklungsländer 34,4
%
Saudi
Arabien 3,5 %
(Quelle:
(Hdbl. vom 02.02.2001; Stand: 1984)
Selbstverständlich ist es gut, wenn eine wichtige
Entscheidung im IWF mit überwältigender Mehrheit zustande kommt.
Genau so wichtig ist aber m.E. die Antwort auf die Frage,
wann eine Entscheidung nicht zustande kommt.
Jeder Staat, der allein mehr als 15 % der Stimmen zusammen
bringt oder jede Gruppierung von Staaten, die mehr als 15 % der Stimmen
zusammen bringt, hat praktisch ein Vetorecht.
(Das nennt man etwas eleganter Sperrminorität!)
Zusammengefasst:
o
Gegen die 124 Entwicklungsländer oder gegen die übrigen Industriestaaten
(welche Länder auch immer das sein mögen)
oder z.B. gegen die Gruppierung
aus Großbritannien, Deutschland und
Frankreich zusammen, läuft nichts We-
sentliches im IWF.
o
Nun ist es wohl unbestritten so, dass sich ein Staat allein sich eher auf eine
Linie oder zu einer Entscheidung
durchringen kann als mehrere Staaten.
Wie sollen sich z.B. mindestens die Hälfte
der Entwicklungsländer - also etwa
60 Staaten - auf eine gemeinsame Linie
einigen!
o Im Klartext: Gegen die Amerikaner
läuft im IWF nichts von Bedeutung!
o Denn: Jede wichtige Entscheidung im
IWF muss mit einer Mehrheit von 85 %
getroffen werden!
7. Volksbegehren und
Volksentscheid oder
Bürgerbegehren und Bürgerentscheid
oder
Die Entscheidungen durch ein
Viertel der Wahlberechtigten
Besonders bemerkenswert schein mir die Realität bei der
Abwahl von Bürgermeistern zu sein.
Hier gilt es zunächst zwischen dem Abwahlbegehren (= Bürgerbegehren) und
dem Bürgerentscheid zu unterscheiden.
Das
Abwahlbegehren müssen 10 % der Wahlberechtigten unterstützen.
Es
kann dann zum Bürgerentscheid kommen, wenn die absolute Mehrheit der
Abgeordneten
(oder Stadtverordneten) dem Antrag zustimmt.
Dann
muss binnen zwei Monaten nach Veröffentlichung des Beschlusses im Amts-
blatt
die Abwahlentscheidung durchgeführt werden.
Ein
Bürgermeister ist abgewählt, wenn
mindestens 25 % der Wahlberechtigten für die
Abwahl
stimmen.
So
steht es in der Kommunalverfassung des Landes Brandenburg.
Im Land Brandenburg reichen also die Stimmen eines
Viertels der Wahlberechtigten aus, um in einem entsprechendem Volksbegehren,
den - mit welcher der oben ausgeführten Mehrheit auch immer - gewählten
Bürgermeister in einer öffentlichen Unterschriftensammlung mitten in der
Amtszeit abzuwählen.
So geschehen in Eberswalde, Kyritz, Schwarzheide, Bad
Lieben-Werda, Lauchhammer und
Herzfeld.
Der Vollständigkeit halber muss natürlich zumindest
erwähnt werden, dass Abwahlbegehren auch scheitern können.
Gescheitert ist dies Abwahlverfahren allerdings in der
Stadt Brandenburg und in Angermün-de.
Dafür (für dieses schnöde Abwählen) ist bereits ein
(angeblich) passendes Wort gefunden:
Bürgermeisterkegeln!
Das Ergebnis ist also weder abhängig von den tatsächlichen
Mehrheiten (weder der relativen noch der absoluten Mehrheit egal ob alle
theoretisch möglichen oder die tatsächlich abgegeben Stimmen gemeint sind),
sondern vom Geschick der Bürgermeister-Gegner, das entscheidende Viertel der
wahlberechtigten Bürger zu motivieren.
Dabei müssen Sie sich nicht einmal auf einen anderen
Kandidaten einigen, wie es bei einem sog. konstruktiven Misstrauensvotum im
Bundesparlament erforderlich ist.
Der neue Bürgermeister wird dann wieder von denselben
Abgeordneten gewählt.
Sie sind mit irgend einer Mehrheit und evtl. sogar von den selben Bürgern, die
den alten Bürgermeister auf den Schild gehoben haben, gewählt worden.
Nun zeigt sich, dass man nicht überall genug Kandidaten
für die Gemeindevertretungen,
Stadtparlamente und Bürgermeisterposten
findet.
Jetzt will man die Regeln ändern:
- Mindestens ein Viertel (statt wie
bisher 10 %) der Wahlberechtigten sollen in
Zukunft erforderlich sein, die das
Abwahlbegehren unterstützen.(Bürgerbegehren)
- Mindestens ein Drittel (statt wie
bisher 25 % der Wahlberechtigten) soll nunmehr
erforderlich sein, um ein Stadtoberhaupt zu
stürzen.(Bürgerentscheid)
Im Bundesland Sachsen sind mindestens die Hälfte der
Wahlberechtigten für eine Abwahl
erforderlich.
8. Das Vetorecht im
Sicherheitsrat der UNO
Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass das Vetorecht
eines Einzelnen - also das Recht zur
Verhinderung einer Entscheidung - genauso wichtig ist, wie das Mehrheitsrecht
für eine Ent-
scheidung.
Vetorecht und Mehrheitsentscheidung sind die beiden Seiten
ein und der selben Medallie.
So hat das Vetorecht der sog. "Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen" eine besondere Qualität - es ist schlicht
undemokratisch, weil es mit Demokratie nichts zu tun hat.
Die "Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat der
UNO" sind die Staaten, die Atomwaffen besitzen und die deshalb sowohl eine
besondere Macht besitzen als auch eine besondere Verantwortung tragen.
Es sind dies die folgende fünf Staaten:
Vereinigten
Staaten von Amerika,
China,
Russland (vorher: GUS-Staaten,)
Großbritannien
und
Frankreich.
(Andere Atommächte wie Indien Pakistan Israel Kasachstan (?)und die Ukraine (?)
sind nicht Mitglieder des Sicherheitsrates.)
Die "Nichtständigen Mitglieder (Staaten) im
Sicherheitsrat" der UNO haben dieses Vetorecht
m.W. nicht.
Am kompliziertesten erscheinen mir die Entscheidungsfindungsprozesse in der
Europäischen Union. Das war auch ein Grund diese Modalitäten erst am Schluss -
wenn sie sich schon etwas eingelesen haben – zu behandeln.
9. Entscheidungsfindungen in
Europäischen Institutionen
9.1. Europäisches Parlament
(Das ist das einzige demokratisch legitimierte Gremium - also durch Wahlen legiti-miert)
9.1.1 Die Zahl der Abgeordneten:
Es hat z.Z. 626 Abgeordnete als Mitglieder des EU-Parlaments der15 EU-Län-
der.
Es
sollen höchstens 700 werden.
9.1.2 Die Amtszeit:
Sie werden für 5 Jahre gewählt,
9.1.3 Die Parteien:
CDU/EVP (Anzahl der Sitze ) z.B.
Helmut Nassauer
SPD (Anzahl der Sitze ) z.B.
Dagmar Roth-Behrendt
(Sprecherin
der sozialdemokratischen
Fraktion
für Umwelt- und Verbraucher-
schutz)
oder
Joe Leinen
Grüne (Anzahl der Sitze ) z.B.
Daniel Cohn-Bendit für Frankreich (!)
Ronald
Messemer (Ö)
9.1.4 Die Aufgaben:
Es
beteiligt sich an der Gesetzgebung
Es
kontrolliert die Kommission.
Es
verabschiedet den Haushalt.
Es
kann ein Misstrauensvotum gegenüber der Kommission als Ganzes ausspre-
chen.
9.1.5 Der wichtigste Streitpunkt:
72 000 Luxemburger wählen einen Abgeordneten
1
200 000 Deutsche wählen ebenfalls einen Abgeordneten.
9.1.6 Die Anzahl der Abgeordneten:
Land Anzahl
der Abgeordneten
1. Deutschland 99
2. Frankreich 87
3. Italien 87
4. Großbritannien 87
5. Spanien 64
6. Niederlande 31
7. Griechenland 25
8. Belgien 25
9. Portugal 25
10.
Schweden 22
11.
Österreich 21
12.
Dänemark 16
13.
Finnland 16
14.
Irland 15
15.
Luxemburg 6
(Quelle 1; S. 1083 und S. 1086) unter Europa)
(Quelle
2; S. 220) unter Europa)
9.2 Ministerrat
Wichtiger Hinweis: Der
Ministerrat wird leider auch oft EU-Rat genannt und kann
dann
leicht mit dem Europäischen Rat verwechselt werden.
(Siehe
auch unter „Verwechselbare Begriffe“)
9.2.1 Die Aufgaben:
Der
Ministerrat entscheidet über die Gesetze.
Der
Ministerrat tagt mit den jeweiligen Ressort-Chefs für jedes Sachgebiet
(Kommissare?)
und beschließt fast alle Verordnungen und Richtlinien.
9.2.2 Besonders wichtig:
o
Von allen Politik-Bereichen müssen 70 mit Einstimmigkeit abgestimmt werden.
o
Nach Vorschlag der Franzosen soll bei 40 Politik-Bereichen das Einstimmig-
keitsprinzip
abgeschafft werden. (z. B. Fiskalpolitik)
o
Großbritannien will die Steuerpolitik herausnehmen.
o
Deutschland will sich in der Asyl-Politik nicht überstimmen lassen.
(Anlage 1: Handelsblatt vom 1.11.2000)
9.2.3 Stimmen der einzelnen Länder: (So
war es bisher)
10 Frankreich
10 Deutschland
10
Großbritannien
10
Italien
5
5
5
4
4
3
2 Luxemburg
_____________________________________
Gesamtzahl der Stimmen: 87
Der EU-Finanzministerrat (Eucofin-Rat ) kann z.B. „Blaue Briefe“ verschicken,
wenn die Einhaltung der im europäischen Stabilitätspakt festgelegten
haushaltspolitischen Regeln (z.B. 3 % Netto-Neuverschuldungsgrenze) nicht
eingehalten zu werden drohen.
Dafür ist eine qualifizierte Mehrheit der Stimmen notwendig.
Sie beträgt 62 von 87 Stimmen. * Das sind genau 71,26 % !
63
von 87 Stimmen wären 72,41 %
64
von 87 Stimmen wären 73,56 %
65
von 87 Stimmen wären 74,71 %
66
von 87 Stimmen wären 75,86 %
Warum man das so festgelegt hat, leibt mit verschlossen!
*(Quelle:
„Blauer Brief an Berlin und Lissabon“ Handelsblatt vom 29.01.2002)
Dieses System benachteiligt die großen Länder, da sie im Verhältnis zu ihrer
Bevölke-rungszahl zu wenige Stimmen haben.
Dieses Problem würde sich durch die Erweiterung (durch kleinere Länder) noch
weiter verschärfen.
Vorschläge zur Änderung der Stimmenzahl
der einzelnen Länder:
1. Vorschlag: „Doppelt
gewichtete Mehrheit“
o
Zuerst soll normal abgestimmt werden.
(Abstimmung mit einfacher Mehrheit)
o
Dann folgt die zweite Abstimmung, bei der jedes Land für jeweils eine Million
Einwohner eine Stimme zusätzlich erhält.
2. Vorschlag: „Spreizungsmodell“
o
Ein großes Land würde 33 Stimmen ein kleines Land 3 Stimmen erhalten.
(Quelle 1:;
S. 1083f)
9.3 Der Europäische Ministerrat
Jedes EU-Land hat
entsprechend seiner Bevölkerungszahl eine bestimmte Anzahl von Stimmen im Ministerrat.
Diese Stimmen sollen nun neu gewichtet werden.
Der Grund:
Mehrere
kleinere Länder sollen bei Mehrheitsentscheidungen nicht in der Lage sein,
Beschlüsse
durchzusetzen hinter denen nicht die Mehrheit der Bevölkerung steht.“
(Quelle:
ARD Video-Text ; Tafel 160 ; „EU-Gipfel: Die wichtigsten Themen (3)“;
am 8.12.2000)
Das ist
schlicht Unsinn!
Wenn
der erste Satz richtig ist, dann muss der letzte Satz inhaltlich
falsch
sein oder umgekehrt.
“Da vor allem kleinere und mittlere Länder der EU beitreten wollen, besteht die
Gefahr,
dass bei einer Fortschreibung des jetzigen Systems, die großen Länder im Ministerrat
überstimmt werden könnten und
Beschlüsse damit nicht mehr die Mehrheit der EU-Bürger repräsentieren würden.
Wenn bei der geplanten Neuregelung die Bevölkerungszahl stärker gewichtet wird,
müsste Deutschland künftig mehr Stimmen erhalten.
Mit Blick auf die Erweiterung muss auch die Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament neu geregelt werden.
(Quelle: ARD Video-Text ; Tafel 161; „Stimmenverteilung im EU-Ministerrat (2)“;
am
8.12.2000)
Die neue Gewichtung im Ministerrat (soll ab gelten) einschließlich der Länder der ersten Runde (Entscheidung
vom 11.12.2000)
alte (bisherige)
Länder Länder der
ersten Runde
(Die 15 EU-Staaten) (Beitrittskandidaten)
Deutschland 29
Frankreich 29
Großbritannien 29
Italien 29
Spanien 27 Polen 27
Rumänien 15 (14)
Niederlande 13
Belgien 12 Tschechien 12
Griechenland 12 Ungarn 12
Portugal 12
Österreich 10 Bulgarien 10
Schweden 10
Dänemark 7 Slowakei 7
Finnland 7 Litauen 7
Irland 7
Luxemburg 4 Estland 4
Lettland 4
Zypern 4
Malta 3
________________________________________________________________________
Summen
der Stimmen 249 (?) 105
= 345
Nun endlich die Regeln für die Entscheidungen, die nun für den Ministerrats
gelten sollen:
1. Möglichkeit:
o
Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen des Ministerrats
mit 258 der insgesamt 345 Stimmen (= 73 % der Stimmen),
Einschränkungen:
1.
Auch mit dieser qualifizierten Mehrheitsentscheidung ist keine
Entscheidung
gegen eine einfache Mehrheit nach der Zahl
der Staaten möglich.
2.
Auch mit dieser qualifizierten Mehrheitsentscheidung ist keine
Entscheidung
gegen eine Sperrminorität von 87 (91)
Stimmen möglich.
3.
Im Zuge der Erweiterung soll die Sperrminorität von 88 (!) auf 91 steigen.
2. Möglichkeit:
Qualifizierte
Mehrheitsentscheidungen des Ministerrats
auf Antrag (eines Landes oder eines
Abgeordneten ?)
durch eine Mehrheit von 62 % der EU-Bevölkerung
(Quelle: „EU-Regierungschefs erlauben sich in Nizza einige Ungereimtheiten“
, Handelsblatt
vom 25.12.2000)
Die Abstimmungsmodalitäten:
o
Das Prinzip der Einstimmigkeit,
o
das Vetorecht oder
o
das Mehrheitsprinzip
-
In der Steuerpolitik gilt (auf Antrag Großbritanniens) das nationale
Vetorecht.
-
In der Asylfrage ist (auf Antrag Deutschlands) keine Einstimmigkeit
erforder-
lich.
(Also hat [ nicht nur] Deutschland ein
Veto-Recht.)
Über
die Asyl- und Einwanderungspolitik soll im Jahre 2004 ein einheitliches
EU-Recht geschaffen werden.
-
In der gemeinsamen Handelspolitik bleibt das Vetorecht bei kulturellen
Fragen
weitgehend bestehen (auf Antrag
Frankreichs; besonders wegen des Handels
mit Filmrechten)
-
Bei der (milliardenschweren) Strukturpolitik bleibt es (auf Antrag
Spaniens als
Hauptprofiteur) bis 2007 bei der
Einstimmigkeit.
Spanien gewinnt aus dem Strukturfond etwa
insgesamt 100 Mrd DM.
-
In der Sozialpolitik gibt es auch zukünftig keine Mehrheitsentscheidungen; es
gibt ein Vetorecht.
-
Bei rund 40 der 73 europäischen Themen wird in Zukunft mit Mehrheit ent-
schieden.
Quellen
1. „Datenhandbuch zur
Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999“
Peter
Schindler; Gesamtausgabe in drei Bänden;
Nomos
Verlagsgesellschaft Baden-Baden 1999; Band II, Seite 1 730 ff
2.
„Bundesrat gerät immer mehr unter Beschuss“, Handelsblatt vom 04.04.2002
3.
„Blauer Brief an Berlin und Lissabon“ Handelsblatt vom 29.01.2002
4.
„EU-Gipfel: Die wichtigsten Themen (3)“; ARD Video-Text ; Tafel 160 ;
am
8.12.2000
5.
„Stimmenverteilung im EU-Ministerrat (2)“; ARD Video-Text ; Tafel 161;
am
8.12.2000
6.
„EU-Regierungschefs erlauben sich in Nizza einige Ungereimtheiten“ ,
Handelsblatt
vom 25.12.2000
1. zum IWF
Internationaler
Währungsfonds
[-¦Ô], Abkürzung IWF (englisch
International Monetary Fund, Abkürzung IMF; Weltwährungsfonds), 1945 aufgrund
des Abkommens von Bretton Woods errichtete Sonderorganisation der UN zur
Überwachung des internationalen Währungssystems (1999: 182 Mitglieder); Sitz:
Washington (District of Columbia). Ziele: Förderung der internationalen
Zusammenarbeit in der Währungspolitik, eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums
sowie eines hohen Beschäftigungsgrades, Sicherung geordneter
Währungsbeziehungen, Schaffung eines multilateralen Zahlungssystems und
Beseitigung von Beschränkungen im Devisenverkehr, zeitlich befristete
Kreditgewährung zum Zahlungsbilanzausgleich.ÿþ
Organe: Oberstes Gremium ist der Gouverneursrat (Board of Governors; je
Mitgliedsland ein Vertreter), aus dem der Interimsausschuss gebildet wird. Die
laufenden Geschäfte führt das Exekutivdirektorium (Board of Executive
Directors; 24 Mitglieder). Jedem IWF-Mitglied ist eine Quote zugewiesen, nach
der sich sein Anteil am Fonds (Subskription), sein Stimmrecht, die Höhe seiner
ständigen Bareinlagen, seine Verpflichtung zur Kreditgewährung an andere
Mitglieder und die Grenze seiner Inanspruchnahme des Fonds (Ziehungsrechte)
bemessen. Den höchsten Stimmenanteil und damit eine Sperrminorität haben die
USA. Um die internationale Währungsordnung flexibler zu gestalten, die Mittel
des IWF zu vergrößern und nach und nach eine stärkere Unabhängigkeit des
Währungssystems vom Gold und vom Dollar zu erreichen, wurde 1969 mit den
Sonderziehungsrechten (SZR) ein neues Reservemedium geschaffen, das als
Zahlungsmittel zwischen den Währungsbehörden dient. Die SZR können dazu benutzt
werden, über die normalen Ziehungsrechte hinaus fremde Währungen zu erwerben
oder Verbindlichkeiten bei anderen Zentralbanken zu begleichen. Seit 1978 ist
den Mitgliedern des IWF die Wahl ihres Wechselkurssystems freigestellt. Die
IWF-Finanzmittel erbringen die Mitglieder über Beiträge. (Allgemeine
Kreditvereinbarungen)
Hier finden Sie in
Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Internationaler Währungsfonds:
Grundlagen
(c) Bibliographisches Institut &
F. A. Brockhaus AG, 2001
Internationaler Währungsfonds:
Grundlagen
Der IWF (International Monetary Fund, IMF) wurde auf der Grundlage
des Abkommens von Bretton Woods am 27.12.1945 mit Sitz in Washington (D.C.)
gegründet. Die wichtigsten Ziele des IWF sind die Förderung der internationalen
Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Währungspolitik, die Förderung des
Welthandels sowie die Vergabe von Mitteln des Fonds an Mitgliedsländer zur
Hilfe bei Zahlungsbilanzproblemen. Im IWF sind 182 Länder Mitglied (1999), die
je einen Vertreter im obersten Gremium, dem Gouverneursrat (Board of
Governors), haben. Jedes Mitgliedsland muss Zahlungen an den Fonds gemäß seiner
festgesetzten Quote leisten. In deren Berechnung fließen v. a. das
Bruttoinlandsprodukt, die Leistungsbilanz und die Währungsreserven eines Landes
ein. Nach der Höhe der Quote richten sich die Stimmrechte sowie die
Kreditfazilitäten, d. h. die Höhe der möglichen Inanspruchnahme der
finanziellen Mittel.
Die Kreditfazilitäten
Jedes Mitgliedsland kann bei
Zahlungsbilanzproblemen, also zur Erhöhung seiner Devisenreserven in
Krisensituationen, unterschiedliche Kreditfazilitäten in Anspruch nehmen. Die
Mittel des Allgemeinen Kontos dienen allen Mitgliedern zur Aufnahme von
Devisenkrediten. Die Kredite sind insgesamt auf die Höhe der Quote beschränkt
und spätestens nach drei bis fünf Jahren zurückzuzahlen. Bei längerfristigen
tiefgreifenden außen- und binnenwirtschaftlichen Strukturproblemen kann auch
auf die Mittel des Kontos für Sonderverwendungen sowie der Erweiterten
Strukturanpassungsfazilität zurückgegriffen werden. Diese Kredite sind stark
subventioniert und müssen erst nach spätestens sieben bis zehn Jahren getilgt
werden. Die IWF-Kredite sind aber mit wirtschaftspolitischen Auflagen (z. B.
Kürzung von Staatsausgaben, Antiinflationspolitik) für die Empfänger verbunden,
die v. a. die Liberalisierung der einheimischen Wirtschaft (verstärkte
Zulassung von möglichst weltweitem Wettbewerb in allen Wirtschaftsbereichen)
betreffen. Die Kreditvergabe an Länder, die sich in aktuellen Finanzkrisen befinden,
ist zunehmend starker Kritik ausgesetzt. Während die eine Seite meint, dass die
Kredite zu gering seien und zu spät gewährt würden, möchte die andere Seite die
Kreditvergabe deutlich einschränken. Ein wichtiges Argument ist dabei, dass die
IWF-Kredite eine Art kostenloser Versicherung für Banken und andere Investoren
darstellen, die diese erst zu besonders riskanten Anlageentscheidungen
veranlassen. Die Kredite führen in manchen Fällen dazu, dass die Gewinne den
Investoren zufließen, während die Verluste den Steuerzahlern aufgebürdet
werden.
Die Sonderziehungsrechte
Seit 1969 sind die
Sonderziehungsrechte (SZR) die offizielle Rechnungseinheit des IWF, in der die
Quoten der Mitglieder berechnet und als Währungsreserven gehalten werden. Die
SZR sind ein Währungskorb, der sich aus US-Dollar, japanischem Yen, britischem
Pfund und Euro (vorher D-Mark und französischer Franc) zusammensetzt. Die
Kredite des IWF werden in SZR ausgezahlt. Der SZR-Kreditzins berechnet sich als
gewichteter Mittelwert aus den aktuellen kurzfristigen Zinsen der
Korbwährungen. Die Korbzusammensetzung wird alle fünf Jahre angepasst.
Das Währungssystem von Bretton Woods
Der IWF wird in der Regel mit dem
Währungssystem von Bretton Woods gleichgesetzt. Auf der internationalen
Währungs- und Finanzkonferenz der UNO, die 1944 in Bretton Woods (New
Hampshire, USA) stattfand, wurden neben der Errichtung des IWF und der Weltbank
auch feste Wechselkurse zwischen den Teilnehmerstaaten beschlossen. Das
Wechselkursabkommen legte fest, dass jedes IWF-Mitglied seine Währung fest an
Gold oder an den US-Dollar binden musste. Der US-Dollar selbst war mit einem
Kurs von 35 US-$ pro Unze zum Gold fixiert und es bestand prinzipielle
Einlösepflicht des US-Dollar in Gold (Golddevisenstandard). Praktisch dominierte
allerdings der US-Dollar als Leitwährung, und die Goldbindung hatte nur
formellen Charakter. Während die Notenbank der USA in der Festlegung ihrer
Geldpolitik frei war, mussten sich alle anderen Mitglieder an die Geldpolitik
der USA ankoppeln, um ihre Währungskurse stabil zu halten und verloren so ihre
geldpolitische Autonomie. Als Folge wurde das weltweite Preisniveau für
handelbare Güter v. a. durch die Geldpolitik der Notenbank der USA bestimmt.
Das System von Bretton Woods war sehr erfolgreich, denn die Wechselkurse
schwankten nur um +/-1 % in ihrer Parität zum US-Dollar und die Paritäten
selbst mussten sehr selten an veränderte fundamentale Bedingungen angepasst
werden. Der allmähliche weltweite Übergang zu voll konvertiblen Währungen
machte das Währungsmanagement allerdings zunehmend schwieriger. Das Ende des
Wechselkurssystems begann 1971, als Präsident Nixon wegen hoher und steigender
Leistungsbilanzdefizite der USA den US-Dollar um 10-20 % gegenüber den
wichtigsten Handelspartnern abwertete. Anfang 1973 brach das Bretton-
Woods-System endgültig auseinander und die Wechselkurse zum Dollar wurden
flexibel.
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F. A. Brockhaus AG, 2001
Sonderziehungsrechte,
Abkürzung SZR (englisch Special Drawing Rights, Abkürzung SDR),
von den Mitgliedsstaaten des Internationalen Währungsfonds (IWF) am 28.ÿ7. 1969 geschaffene, der Kontrolle des IWF
unterliegende Währungsreserve (Buchgeld) zur Sicherung der internationalen
Liquidität. Die Sonderziehungsrechte stellen den Anspruch eines Mitgliedslandes
gegenüber allen IWF-Mitgliedern auf Überlassung konvertierbarer Währungen dar.
Sie werden allen Teilnehmerländern entsprechend der nationalen Quote des
jeweiligen Landes am IWF zugeteilt und können dazu genutzt werden, über die
normalen Ziehungsrechte hinaus fremde Währungen zu erwerben oder
Verbindlichkeiten bei anderen Zentralbanken zu begleichen. Der Wert der
Sonderziehungsrechte war ursprünglich in Gold definiert, wobei die Goldparität
dem Goldwert eines US-Dollars entsprach. Vom 1.ÿ7. 1974 bis 31.ÿ12. 1980 wurde der Wert durch einen
Standardkorb von 16 wichtigen Währungen bestimmt, vom 1.ÿ1. 1981 bis 31.ÿ12.
1998 nur noch von 5 Währungen (US-$, Deutsche Mark, Pfund Sterling,
Französische Franc und Yen). Seit Beginn der EWU hat der IWF die im SZR-Korb
enthaltenen Währungsbeträge für die D-Mark und den französischen Franc durch
entsprechende Euro-Beträgeÿ- unter
Zugrundelegung der offiziellen Umrechnungskurseÿ- ersetzt. Der Wert eines SZR errechnet sich somit aus 0,1239 (Frankreich), 0,2280 (Deutschland), 27,200 Yen, 0,1050 Pfund
Sterling und 0,5821US- $.
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2. zum Volksbegehren und Volksentscheid
Volksbegehren
(Volksanregung), das auf verfassungsrechtlicher Grundlage beruhende
Verlangen einer Mindestzahl von Staatsbürgern nach Erlass eines Gesetzes oder
Herbeiführung eines Volksentscheids. þ
In Österreich kennen die Verfassungen der Länder Volksbegehren und der
Bund das Volksbegehren auf Erlass von Gesetzen (Artikel 41 Bundesverfassungsgesetz);
für die Schweiz Volksinitiative.
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Deutschland: Regierungen und
Verfassungen der neuen Länder
Das Superwahljahr 1994 brachte für Ostdeutschland die zweite
Überraschung nach dem unerwartet hohen Sieg der CDU in den ersten Wahlen nach
der Wende 1990. Die FDP kam in den fünf neuen Ländern nicht mehr in die
Landtage, Bündnis 90/Die Grünen zog nur in Sachsen-Anhalt in den Landtag ein.
Die spektakulärste Folge davon war hier die Ablösung der christlich-liberalen
Koalition durch eine von der PDS tolerierte Minderheitsregierung aus SPD und
Bündnis 90/Die Grünen. Die Konservativen sahen damit den Konsens der westlich
dominierten großen Parteien gebrochen, nicht mithilfe von Kommunisten oder
Rechtsradikalen zu regieren.
Die fünf neuen Länder waren mit
Wirkung vom 3.ÿOktober 1990, dem »Tag der Deutschen
Einheit«, durch Beschluss der am 18.ÿMärz
1990 demokratisch gewählten Volkskammer vom 22.ÿJuli 1990 geschaffen worden. Sie entsprachen mit einigen
Gebietskorrekturen den Ländern, die von 1945 bis 1952 in der SBZ/DDR bestanden
hatten: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen,
Thüringen. Der Ostteil Berlins, ehemals »Hauptstadt der DDR«, wurde nach
Herstellung der deutschen Einheit mit West-Berlin zum einheitlichen Land Berlin
vereinigt (siehe auch Berlin: Entscheidung zur Hauptstadt Berlin). Bei den
ersten Landtagswahlen am 14.ÿOktober 1990
war die SPD nur in Brandenburg stärkste Partei geworden, in den anderen Ländern
erlangte die CDU die relative, in Sachsen sogar die absolute Mehrheit.
Drittstärkste Kraft wurde in allen neuen Ländern die PDS (zwischen 10 und 15ÿ%); mit größerem Abstand folgten FDP und Bündnisÿ 90. In Sachsen regierte die CDU allein unter Kurt
Biedenkopf, in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen gab es
christlich-liberale Koalitionen und in Brandenburg eine so genannte
Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnisÿ90
unter Manfred Stolpe. In der ersten Legislaturperiode war es in allen neuen Ländern
zu zahlreichen Rücktritten von Parlamentariern und Politikern, z.ÿB. wegen früherer Stasiverbindungen, und zu
Regierungskrisen gekommen, die außer in Brandenburg und Sachsen zur Abwahl der
Ministerpräsidenten führten. In Brandenburg schwelte ein Dauerkonflikt um die
angebliche IM-Tätigkeit Stolpes mit Teilen von Bündnisÿ90/Die Grünen, die schließlich die Regierung
verließen, als die parlamentarische Untersuchungskommission Stolpe das
Vertrauen aussprach. In den Landesregierungen und Verwaltungsbehörden
arbeiteten von Anfang an leitende Beamte und Politiker aus den alten
Bundesländern, aber nur ein Ministerpräsident kam zunächst aus dem Westen: Kurt
Biedenkopf in Sachsen. Die Rücktritte in Sachsen-Anhalt und Thüringen brachten
zwei weitere Politiker aus dem Westen ins höchste Landesamt: Bernhard Vogel in
Thüringen und Werner Münch in Sachsen-Anhalt. Münch musste allerdings nach zwei
Jahren sein Amt wegen Unstimmigkeiten über seine Bezüge an den ostdeutschen
CDU-Fraktionsvorsitzenden Christoph Bergner abgeben. Nach den Landtagswahlen
von 1994 haben sich die Regierungskonstellationen in drei Ländern wesentlich
geändert. Die christlich-liberalen Koalitionen wurden in Thüringen und
Mecklenburg-Vorpommern durch große Koalitionen aus CDU und SPD abgelöst, in Sachsen-Anhalt
durch die rot-grüne Minderheitsregierung. Als erstes ostdeutsches Land gab sich
der Freistaat Sachsen am 26.ÿMai 1992 seine
Landesverfassung. Als letztes Land verabschiedete Thüringen seine Verfassung
mit einem festlichen Staatsakt am 25.ÿOktober
1993 auf der traditionsreichen Wartburg. Thüringen erklärte sich ebenso wie
Sachsen zum Freistaat. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen ließen
ihre von den Landtagen verabschiedeten Verfassungen in einem Volksentscheid
bestätigen. Die ostdeutschen Länderverfassungen sind mit Unterstützung von
westdeutschen Experten weitgehend nach dem Muster der Länderverfassungen in der
»alten« Bundesrepublik gestaltet worden. Sie zeichnen sich aber durch zwei
Besonderheiten aus. Alle enthalten im westlichen Verfassungsdenken umstrittene
plebiszitäre Elemente wie Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid. In
Sachsen und Brandenburg können Gesetze nicht nur vom Parlament, sondern auch
durch Volksantrag und Volksbegehren eingebracht werden. Die zweite Besonderheit
ist die Ausweitung der Grundrechte aufÿþ
individuell nicht einklagbareÿþ soziale
Staatszielbestimmungen. Dazu gehören in unterschiedlichen Formulierungen das
Recht auf Arbeit, auf angemessenen Wohnraum, Bildung, Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen und persönlicher Daten. Die mit dem ökonomischen und sozialen
Strukturwandel (siehe auch Treuhandanstalt und ökonomischer Wandel in den neuen
Bundesländern) verbundenen Probleme haben bei den neuen Bundesbürgern
offensichtlich die Überzeugung wachsen lassen, dass diese Werte geschützt
werden müssten.
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Volks|entscheid
(Referendum), eine unmittelbare Mitwirkung des Volkes an der
staatlichen Gesetzgebung oder an sonstigen staatlichen Entscheidungen durch
Abstimmung; häufig durch ein Volksbegehren eingeleitet. In Deutschland gibt es
nach dem GG (Artikelÿ29 Absatzÿ2) den Volksentscheid nur in Fragen der Neugliederung
des Bundesgebietes, jedoch sehen viele Länderverfassungen Volksentscheide vor
(zum Teil als »Bürgeranträge« oder andere Bezeichnungen).ÿþ In Österreich ist der Volksentscheid,
Volksabstimmung genannt, obligatorisch für Totaländerungen der Bundesverfassung
und fakultativ für Verfassungs- und Gesetzesbeschlüsse. In einzelnen Ländern
können auch die Wahlberechtigten einen Volksentscheid veranlassen. In der Schweiz
ist die Zustimmung des Volkes bei Verfassungsänderungen des Bundes und der
Kantone notwendig. Bundesgesetze müssen dem Volk unterbreitet werden, wenn 50ÿ000 Stimmbürger oder acht Kantone dies verlangen.
Staatsverträge und kantonale Gesetze unterliegen teils dem obligatorischen,
teils dem fakultativen Referendum.
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